Das Wunder des „WIR“

Es wird gerade viel über Grenzen diskutiert. Mo­ralische Grenzen, die wir möglicherweise mit unserem Lebensstil überschreiten. Rechtliche Grenzen, die junge Menschen mit ihren Klima­protesten überschreiten. Was ist legitim? Wann dürfen wir, ja sollten wir diese Grenzen über­schreiten? Ist rechtens, was Recht ist? Können wir das Recht des Einen gegen das Recht eines Anderen ausspielen?

Die Weihnachtszeit ist viel­leicht ein guter Moment, um innezuhalten und sich diesem Thema zu nähern. Was richtig und falsch ist, was Moral ist, darüber wird seit der Antike und wahrscheinlich darüber hinaus disku­tiert und philosophiert. Sokrates, Platon und Aristoteles prägten die Sichtweise, dass wir nicht in der Lage seien, den Unterschied zwischen Gut und Böse festzulegen. Ihr Grundgedanke war: „Der Mensch handelt schlecht, wenn er das Gute nicht weiß“. Auch Immanuel Kant war ein Ver­treter dieser Denkrichtung. Sein kategorischer Imperativ lässt keinen Spielraum: „Handle immer so, wie du willst, dass es ein allgemeines Gesetz wird“. So war für Kant klar, eine Lüge ist indiskutabel, auch wenn die Wahrheit dazu führt, dass andere Schaden erleiden. Alle Moralphiloso­phen dieser Schule sind überzeugt, dass es eine universelle Wahrheit geben müsse. Dem gegenüber steht die subjekti­ve Moral, wie sie Epikur vertreten hat.

Er war überzeugt, es sei moralisch lustbetont zu leben. Damit meinte er aber ein Leben in Einklang mit sich und der Natur. Da diesen Pfad jede*r für sich selbst entdecken müsse, so Epikur weiter, ist Moral hochgradig subjektiv. Auch dieser Denkrichtung folgten über die Jahrhunderte viele Philosophen nach. So sah beispielsweise Arthur Scho­penhauer im Mitleid den Ursprung für moralisches Verhal­ten. Grundlage dieser ganzen Denkrichtung ist der Glaube daran, dass wir Mitgefühl empfinden können und dass die­ses uns in unserem Handeln leitet. Aber haben wir diesen „Common Sense“, also „gesunden Menschenverstand“, wie es die Pragmatisten nennen? In den letzten Jahren be­rufen sich einige extreme Gruppierungen, aber eben auch Organisationen des zivilen Widerstandes, wie der Aufstand der „Letzten Generation“ auf das Widerstandsrecht und hiermit auf unser Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 4, das mit der Notstandsgesetzgebung 1968 in das Grundgesetz eingefügt wurde. Das Widerstandsrecht soll Bürger*innen ein Abwehrrecht gegenüber einer rechtswidrig ausgeübten Staatsgewalt einräumen, mit dem Ziel die dann gefährdete Rechtsordnung wiederherzustellen.

Strittig ist nur, wann denn dieses Recht zum Widerstand greift. Und wann ist unsere Rechtsordnung überhaupt ge­fährdet? Meinungsfreiheit, lmpfplicht, Stammzellenfor­schung, Gentechnik, Klimawandel, globale Gerechtigkeit: die Liste potentieller Gefahrenherde ist je nach Blickwinkel unterschiedlich. Und alle Blickwinkel haben gemeinsam, dass sie blinde Flecken haben. Das ist unvermeidbar, an­gesichts der Vielschichtigkeit und Komplexität unserer globalisierten Welt. Alles hängt mit allem zusammen und unsere Politiker*innen haben die undankbare Aufgabe, unter dem Einfluss unablässiger Manipulationsversuche durch Lobbyisten-Verbände, dem Ganzen gemäß unserem Moral- und Rechtsverständnis Sinn zu geben.

Dabei haben die meisten aber immer die Interessen derer im Blick, die sie vertreten, obschon der Blick, wenn es um Recht geht, meines Erachtens nicht an den Grenzen unse­res Verantwortungsbereiches enden sollte. Wir sehen in vielen Teilen der Welt gerade, wie Machthaber*innen mit immer größerer Unverfrorenheit Moral und Recht so de­finieren, wie es ihnen beliebt. Ich glaube, dass uns unser Recht, unsere Moralvorstellungen am Ende Leitplanken setzen. Das ist wichtig. Es entbindet uns aber nicht von unserer Verantwortung. Mit dem 1930iger Jahren wurde der Begriff des „Century of the Self“ geprägt, als das „Jahrhun­dert des Ichs“. Das hat uns viel Fortschritt und Wohlstand gebracht, aber auch neue Probleme und Herausforderun­gen geschaffen. Vielleicht brauchen wir jetzt die nächste Stufe der Evolution, das „Jahrhundert des WIR“?

Und da kommt wieder die Weihnacht ins Spiel. Denn dieses „WIR“ braucht Mitgefühl über sich und seine Nächsten hi­naus. Kurz, es braucht ein Wunder. Ein Wunder, in dem wir alle beginnen, für unser Verhalten Verantwortung zu über­nehmen und Nein zu sagen, dort wo die Dinge klar sind. Wenn wir also ausbeuterische Fastfashion in den Regalen liegen ließen, wenn wir Fleisch aus Massentierhaltung auch für den billigsten Preis nicht kauften, weil wir eigentlich alle wissen, dass das falsch ist, ja dann, könnte das Wunder des „WIR“ Wirklichkeit werden und wir würden vielleicht merken, dass es gar nicht so viel materiellen Wohlstand braucht, könnten anfangen zu teilen und glücklich sein.

Freier Autor: Frank Braun